Situationsanalyse Sommer 2022: Zeit der Krisen? Zeit für Widerstand!

In den vergangenen Monaten haben verschiedene Entwicklungen wie der Krieg in der Ukraine, die scheinbar verschwundene Corona-Pandemie und natürlich die Preissteigerungen in allen Bereichen zu neuen Entwicklungen der gesellschaftlichen Situation in Deutschland geführt. In diesem Text wollen wir versuchen, die aktuelle Situation und ihre Ursprünge zu erklären, ihre konkreten Auswirkungen und mögliche Folgen aufzeigen und darlegen, wie eine klassenkämpferische Antwort auf die Krise aussehen kann.

Einleitung

Das Jahr 2020 hat mit dem Beginn der Corona-Pandemie weltweit eine neue Etappe gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen eingeläutet. Bereits im Mai 2020 haben wir zusammen mit unseren Schwesterorganisationen eine längere Analyse mit einigen Prognosen zu diesen neuen Entwicklungen veröffentlicht. Dabei war die zentrale These, dass die Pandemie “einen neuen zentralen Faktor der Schwächung und der Blockade der „normalen“ Abläufe des Systems” darstellen und zu einem “beispiellosen Angriff auf die Lebensbedingungen der unteren Klasse” führen würde.

Seitdem wir diese Zeilen verfasst haben sind mehr als zwei Jahre vergangen. Jetzt, im Juli 2022, stellen wir fest, dass sich die Situation ein weiteres mal entscheidend verändert hat. Die Corona-Pandemie ist zwar noch lange nicht zu Ende, sie ist aber angesichts den Meldungen über die globale Inflation und deren Auswirkungen auf die lohnabhängige Klasse sowie hinter den Nachrichten vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, in den Hintergrund getreten. Die massiven Preissteigerungen in allen Lebensbereichen und der Krieg, der sie teilweise befeuert, haben global wie auch regional zu einer neuen Situation geführt, in der unsere Klasse einen massiven Angriff auf ihre Lebensstandards erlebt. Gleichzeitig erleben wir, dass sich die sozialen Bewegungen und die Linke als gesellschaftliche Gegenkräfte, die den Widerstand gegen diese Angriffe formieren könnten, in einer Phase der Schwäche und idelogischen Orientierungslosigkeit befinden. Es gilt, aus dieser Schwäche auszubrechen und den Widerstand gegen die sich verschlechternden Lebensbedingungen aufzunehmen.
Mit diesem Text versuchen wir, unsere Analyse der aktuellen Situation, der Lage der gesellschaftlichen Gegenkräfte und Handlungsmöglichkeiten angesichts der Krise, darzulegen. Wir legen dabei den Schwerpunkt auf Deutschland – betrachten aber auch den europäischen und globalen Kontext. Damit wollen wir einerseits den Austausch in unserer Bewegung zur Lage fördern, aber auch dazu anregen, den Widerstand gegen die Entwicklungen in Schulen, Unis, Arbeitsplätze und in die Viertel zu tragen. Wir freuen uns sehr über Rückmeldungen auf unseren Text, besonders auch über die kritischen!
Lasst uns gemeinsam daran arbeiten den Widerstand als Klasse gegen die Krise und das System zu entfalten! Für den Aufbau von Gegenmacht von unten!

Analyse der aktuellen Krisenlage

Im Frühjahr 2020 beobachteten wir, dass global gesehen einige Staaten restriktivere und einige weniger restriktive Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen. In vielen Ländern war zu beobachten, dass die Regierungen die soziale Kontrolle über die lohnabhängige Klasse massiv verschärften. Wir prognostizierten richtig, dass gerade die chinesische Regierung sich hier als besonders rigide hervortun würde. Doch während es am Anfang der Pandemie noch schien als könnte dieses Modell in die ganze Welt exportiert werden, sehen wir in fast allen Staaten heute das Gegenteil. Parallel zum Beginn der Impf-Kampagnen in den Ländern der industriellen Zentren Europas und Nordamerikas haben fast alle Regierungen dieser Region die Pandemie-Maßnahmen massiv zurückgefahren. Mit der Zunahme von Impf-Möglichkeiten ging der Abbau von Testmöglichkeiten einher. Die Ausbreitung des Virus und seiner neuen Varianten ist kaum mehr beobachtbar oder gar kontrollierbar. Die Fälle, die registriert werden legen dauerhaft hohe Infektions- und Hospitalisierungraten nahe (1; 2). Die Gesundheit der lohnabhängigen Klasse und der besonders bedrohten Gruppen ist dem Drang des Kapitals und der Regierungen geopfert worden, die Volkswirtschaften wieder anzukurbeln. Bereits jetzt ist klar, dass wir für den Herbst und Winter mit hohen Infektionszahlen zu rechnen haben. Es ist davon auszugehen, dass die Regierungen nicht wieder zu Einschränkungen, die den Ablauf der Volkswirtschaften behindern könnten, zurückkehren werden. Ob sie es wagen, Einschränkungen der Freizeit vorzunehmen ist noch unklar. Aktuell spricht sich zumindest in Deutschland ein signifikanter Teil der Bevölkerung gegen Verschärfungen aus (3) und diese hätten natürlich auch einen negativen Effekt auf die Erholung der Volkswirtschaften. In jedem Fall wird der Anstieg der Infektionszahlen das Gesundheitssystem in Deutschland ein weiteres Mal viel zu schlecht vorbereitet treffen. Die Verantwortung dafür trägt die Regierung, die entgegen aller Versprechungen die desaströse Lage des Personals in diesem Sektor blindlings ignoriert. Der Personalmangel ist akut, weil viele Beschäftigte selbst erkranken oder längst die Branche verlassen haben (4). Der Streik der Beschäftigten in den Uni-Kliniken von NRW, der wochenlang dauerte, zeigt, dass die Regierenden bereit sind, die “Helden der Krise” weiterhin bluten zu lassen, aber dass die Beschäftigten genug von dieser Politik haben.
Außerhalb der industriellen Zentren ist die Verfügbarkeit der Impfstoffe und damit die Verbreitung der Impfungen aufgrund der Verteilungspolitik der industriellen Zentren in vielen Ländern immer noch stark limitiert (5). Zusammen mit den geringer ausgebauten Gesundheitssystemen bedeutet das, dass die Bevölkerungen wesentlich schlechter auf das Virus und seine neuen Varianten vorbereitet sind.

Während die Pandemie scheinbar in den Hintergrund gerückt ist, hat sich die nächste globale Krise entfaltet. Seit 2021 nimmt die Inflation in vielen Volkswirtschaften weltweit zu – auch in den wirtschaftlich “stabilen” Ländern der industriellen Zentren (6). Insgesamt nimmt die Inflation global zu (7). Angetrieben wird diese Entwicklung dadurch, dass Lieferketten, die die Pandemie unterbrochen hat, sich immer noch nicht erholt haben sowie durch steigende Energiepreise. Letztere steigen, weil sich die zur Energieerzeugung benötigten Rohstoffe verteuern und gleichzeitig der globale Bedarf der sich erholenden Volkswirtschaften ansteigt. Hinzu kommt in Deutschland eine stärkere CO2-Bepreisung als Maßnahme der Agenda eines “grünen Kapitalismus” (8). Wir dürfen hier allerdings nicht vergessen, dass Preisanstiege auch im Zuge der Teuerungen bei Rohstoffen kein Naturgesetz sind – und die Höhe der Preisanstiege schon gar nicht. Die Kapitalist*innen beharren auf dem Erhalt oder sogar der Steigerung der Profitrate und lassen uns den Preis dafür zahlen. Die Mineralölkonzerne haben es vor gemacht und haben satte Übergewinnen eingefahren (9) mit fantastischen Gewinnaussichten (10).
Die Folgen dieser Entwicklung: Seit Monaten steigen in allen Bereichen die Preise massiv an, insbesondere für Treibstoff, Heizen und Nahrungsmittel (11).
Die Inflation bedeutet, dass wir uns real weniger leisten können, auch wenn unsere Löhne auf dem Papier teilweise steigen (12). Diese Situation stellt einen massiven Angriff auf die Lebensbedingungen der lohnabhängigen Klasse, insbesondere ihrer prekärsten Teile dar. Der Zustrom zu den Essensausgaben der Tafeln nahm schon während der Pandemie zu (13) und steigt jetzt weiter (14). Auf viele kommen in den nächsten Wochen und Monaten die Jahresabrechnungen unserer Energieanbieter zu – aller Wahrscheinlichkeit nach mit massiven Nachforderungen. Es ist klar, dass viele Lohnabhängige das in dieser Situation nicht mehr zahlen können. Energiesperren und Zwangsräumungen, sollte auch die Zahlung der Miete nicht möglich sein, werden folgen. Und wenn es nicht jetzt geschieht, dann werden solche Szenarien im kommenden Jahr folgen. Denn ein Absinken der Inflation wird aktuell nicht als wahrscheinlich angesehen. Eine neue, tiefgreifende Wirtschaftskrise, in der Unternehmen pleite gehen oder Massenentlassungen durchführen, kann die Folge dieser Entwicklung sein. Sollte es dazu kommen, werden Entlassungen überdurchschnittlich die Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen treffen – und damit FLINTAs und migrantische Menschen, die überdurchschnittlich oft in solchen Verhältnissen leben. Für FLINTAs in Partnerschaften mit Cis-Männern wird das die Abhängigkeit vom männlichen Alleinverdiener vergrößern. Das wird bedeuten, dass es weniger Möglichkeiten für FLINTAs gibt, patriarchaler Partnerschaftsgewalt zu entfliehen.
Zur Verarmung der Lohnabhängigen kommt der miserable Zustand der öffentlichen Infrastruktur und der Daseinsfürsorge hinzu, den die Krise weiter verschlechtern wird. Im ganzen Land sind die Stellen in der öffentlichen Verwaltung, in Bildung und Erziehung sowie im Pflegesektor ungenügend besetzt. Schienenstrecken und Schulen sind marode. All das bedeutet eine schlechtere Versorgung der Menschen im Ernstfall, längere Wartezeiten und damit gesundheitliche Risiken. Viele Lohnabhängige spüren diese Entwicklung bereits im Alltag.
Die Ampel-Regierung hat auf diese Krise bisher mehr als zurückhaltend reagiert – zumindest wenn es um Entlastungen für die Lohnabhängigen ging. Ein kleiner Zuschuss für Wohnhilfegeldempfänger:innen, ein Tankrabatt dessen Auswirkungen größtenteils in den Taschen der Mineralöl-Magnaten zu spüren war und das 9-Euro-Ticket für den Sommer. Es ist unklar, welche Maßnahmen sich am Ende in der Regierung durchsetzen werden – von Aufwärmhallen für Arme, dem Stopp von Energiesperren, aber auch der Drosselung der Heizungen ist bereits die Rede.
Bei den Krisenmaßnahmen, die die Kapitalist*innenklasse betreffen, war die Regierung dagegen nicht ganz so geizig. Im Juni wurde die Zahlung von Kurzarbeiter*innengeld noch einmal verlängert bis Ende September 2022 (15). Der Staat zahlt also Unternehmen bei einem Mindestanzahl an ausgefallenen Arbeitskräften immer noch einen Teil der Löhne. Auch die geplanten Steuerentlastungen bei der Einkommenssteuer (16) werden überproportional diejenigen begünstigen, die viel verdienen. Menschen, die nichts oder kaum Lohn bekommen, werden bei dieser Maßnahme leer ausgehen.
Die Herrschenden scheinen den “sozialen Sprengstoff” (Olaf Scholz) der Situation durchaus zu erkennen. Deshalb mobilisieren sie gerade ideologisch und praktisch gegen die Gefahr einer lohnabhängigen Klasse, die sich das alles nicht länger gefallen lässt. Ideologisch, indem sie die Menschen auf “Jahre der Knappheit” (Christian Lindner) einschwören, die angeblich alle treffen würde. Und praktisch, indem sie das gepanzerte Ross der Sozialpartnerschaft ins Feld führen. Die “konzertierte Aktion” von Kanzler Scholz (17), mit der er Kapitalverbände und DGB-Führung an einen Tisch gebracht hat, um “gemeinsame” Lösungen aus der Krise zu verhandeln, ist dafür das beste Beispiel. Dem letzten unangepassten DGB-Mitglied sollen so auch noch die Zähne gezogen werden, um größere Lohnkämpfe zu verhindern.
Doch auch auf einer anderen politischen Bühne geht die bürgerliche Ideologie in die Offensive. Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der selbst den Preissteigerungen noch einmal einen ordentlichen Schub versetzt hat, rüsten die NATO-Staaten auf. Die Ampel-Regierung hat unter dem Vorwand des Kriegs ein massives 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungspaket auf den Weg gebracht. Die NATO erlebt einerseits eine ideologische Stärkung durch die Berichterstattung der bürgerlichen Medien, die voll auf Regierungskurs sind. Andererseits erlebt sie eine militärische Stärkung durch die Aufrüstung und den Beitritt Finnlands und Schwedens. Den Preis dafür zahlen andere Bereiche der öffentlichen Versorung, für die weniger Geld da sein wird, aber vor allem die kurdische Freiheitsbewegung. Das türkische Regime hat die Situation genutzt und mit seiner Zustimmung zum NATO-Beitritt der beiden Länder, eine Auslieferung verfolgter Aktivist:innen erreicht. Unterdessen bereitet Erdogan eine umfassende Invasion gegen das fortschrittliche Projekt Rojava vor. Bereits jetzt verschärft die Türkei ihre Kriegsführung in Nord- und Ostsyrien.
Nicht unerwähnt darf hier das Voranschreiten der Klimakrise bleiben. Ihre Auswirkungen sind auch in diesem Sommer wieder massiv zu spüren – vor allem im globalen Süden. In Europa trifft es vor allem die südlichen Mittelmeer-Staaten, aber auch hier in Deutschland verschärft sich die Situation. Schwere Hitzewellen gefährden das Leben von Menschen aus Risikogruppen, wobei natürlich auch hier ausschließlich die lohnabhängige Klasse betroffen ist. Dürren werden wieder Ernten vernichten und damit die Preisanstiege für Nahrungsmittel verschlimmern. Gerade jetzt ist es fatal, dass die Regierungen im Zuge der Gasknappheit fossile Energieerzeugung wieder ins Auge fassen. In Deutschland wird über die Ausweitung der Kohle- und Atomverstromung diskutiert, aber auch der Ausbau von Flüssiggas-Infrastruktur (LNG) vorangetrieben. Wenn auch diese Technologien nach außen als sauber präsentiert werden, stellen sie in Wahrheit eine Strategie dar, um die Nutzung fossiler Energie aufrechtzuerhalten, was den notwendigen Ausbau erneuerbarer Energieproduktion verlangsamt (18). Die Energiekrise eröffnet aber auch die Möglichkeit, in unseren Kämpfen darüber zu reden, ob es nicht sinnvoll wäre, energieintensive und für den Bedarf der Menschen nicht benötigte Produktionsstätten herunterzufahren. Schließlich wird eine Schmälerung der Produktion sowieso notwendig sein, um die Klimakatastrophe einzudämmen. Warum nicht diese Krise als ein Aufhänger nutzen, um darüber mit unseren Mitmenschen zu sprechen?
Die Klimakrise bleibt neben vielen anderen ein wichtiger Faktor, der die globalen Fluchtbewegungen vorantreibt. Aber auch die aktuelle Krisenlage als globale Krise wird diese Bewegungen verstärken. Die Staaten der EU haben sich auf diese Situation mit mörderischem Kalkül vorbrereitet. Die europäische Abschottung wurde in den letzten zwei Jahren weiter verschärft, während weiter Menschen versuchten und versuchen aus dem Nahen Osten, Zentralasien und Afrika nach Europa zu flüchten. Die Politik der Regierungen ist tödlich und offenbart den brutalen Charakter dieses rassistischen, nationalstaatlichen Systems.

Analyse der Gegenkräfte

Die Reaktion der lohnabhängigen Klasse auf diese mehrschichtige Krisensituation fällt in Deutschland wie im gesamten deutschsprachigen Raum extrem schwach aus. Während wir sowohl innerhalb (Belgien, Großbritannien) als auch außerhalb der industriellen Zentren (Sri Lanka, Kolumbien, Argentinien) bereits großen Proteste gegen die Preissteigerungen gesehen haben, hat es hier bisher nur sehr sehr wenige und sehr sehr kleine Mobilisierungen gegeben – an einer davon war auch unsere Lokalgruppe im Ruhrgebiet beteiligt. Bemerkenswert und erfreulich ist, dass es bisher rechten Kräften nicht gelungen ist, den sicherlich und berechtigterweise vorhandenen Unmut über die Situation, unter ihrer Fahne auf die Straße zu mobilisieren. Es ist jedoch auch klar, dass sich eine solche reaktionäre Krisenbewegung jederzeit entwickeln kann. Nach zwei Jahren Mobilisierungen eines rechtsoffenen Milieus im Zuge der Pandemie, dürfte das Personenpotential dafür in jedem Fall gegeben sein. Es ist also vermutlich nur eine Frage der Zeit bis wir Versuche von rechts sehen, sich dem Thema in großem Stil anzunehmen.

Es wäre nun also eigentlich längst Zeit dafür, den Rechten zuvorzukommen und einen Krisenprotest von links anzustoßen. Dass das nicht passiert liegt sicherlich auch daran, dass die gegenwärtigen Krisen in Deutschland und im ganzen deutschsprachigen Raum auf eine massiv geschwächte Linke treffen. Die Krise der Linken in der aktuellen Lage ist umfassend und betrifft sowohl die Sozialdemokratie in Form der intern zerstrittenen Linkspartei, als auch die großen Gewerkschaften und die radikale Linke.
Wie oben gezeigt, ist die DGB-Führung wieder einmal auf Kuschelkurs mit dem Kapital gegangen, um den deutschen Wirtschaftsstandort zu verteidigen. Dass dieser Kurs für die neue DGB-Chefin Fahimi, die direkt aus der SPD kommt, kein Problem ist, erklärt ihr Funktionärsgehalt, für das die Mitglieder der DGB-Gewerkschaften zahlen. Vielen einfachen Mitgliedern dürfte aber klar sein, dass der Kurs der Beschwichtigung am Ende Reallohnverlust bedeutet. Denn wenn die Forderungen nach Lohnerhöhung während der kommenden Tarifrunden die Teuerungsrate nicht übersteigt, dann bleibt der Reallohn gleich oder er sinkt. Und nach letzterem sieht es aktuell in vielen Branchen aus. Es wird am Ende wieder einmal darauf ankommen, dass sich die DGB-Mitglieder nicht von ihrer Funktionärsebene austricksen lassen und sich auch nicht mit miesen Tarifabschlüssen (19) zufrieden geben, sondern selbst entschlossen für die berechtigten Forderungen kämpfen. Ein Beispiel für diese Entschlossenheit liefert gerade der Streik in den Unikliniken von NRW, der seit Wochen durchhält und miese Angebote der Leitungen zurückweist. Aber auch in einigen Branchen haben wir schon Streiks gesehen. Dass mittlerweile auch solche stark befriedeten Branchen wie die Hafenarbeiter:innen nach Jahrzehnten wieder merkbar streiken macht Hoffnung auf eine Zeit des verstärkten Kampfes von unten.
Um den kämpferischen Pol in der Gewerkschaftsbewegung zu stärken, ist angesichts der Angepasstheit und Tatenlosigkeit der DGB-Führung eine Stärkung der Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) als kämpferische Basisgewerkschaft entscheidend. Die FAU hat sich in den vergangenen Jahren enorm positiv entwickelt und ihre Mitgliedszahlen gerade auch während der Pandemie massiv gesteigert. Es wird in den nächsten Jahren darauf ankommen, die FAU weiter aufzubauen und gleich die Stärkung kämpferischer Elemente in den DGB-Gewerkschaften zu fördern. Gleichzeitig muss realistisch gesehen festgestellt werden, dass die FAU derzeit wohl kaum in der Lage wäre, den Kampf gegen die Lohnentwertung entscheidend voranzutreiben.
Die aktuelle Krise und die Schwäche der Gewerkschaftsbewegung wirkt sich auch lähmend auf andere soziale Kämpfe aus, in die die (radikalen) Linken verwickelt ist. Die antifaschistische, antirassistische, feministische und Klima-Bewegung, erleben nach teilweise aufsehenerregenden Höhepunkten (Protest gegen den Rechtsruck seit 2015, Black-Lives-Matter-Proteste 2020, feministischer Streik 2019, Kämpfe um Hambacher und Dannenröder Forst) derzeit eine Phase der Schwäche und Orientierungslosigkeit.
Und zuletzt sind auch die anfänglich – wenn auch schwach – vorhandenen Proteste gegen den Krieg in der Ukraine wieder in sich zusammengefallen. Die Formierung einer echten Friedensbewegung oder gar antimilitaristischen Bewegung fand nicht statt, was einerseits der ideologischen Orientierungslosigkeit der Linken irgendwo zwischen Parteinahme für die NATO oder Parteinahme für Putin in dieser Frage geschuldet war, aber eben auch der massiven bürgerlichen Kriegspropaganda. Die Kampagne autoritär-kommunistischer Organisationen gegen die Aufrüstung fand ihren Weg auf die Straßen, eine Mobilisierung über die eigenen Kreise gelang allerdings nicht.

Handlungsmöglichkeiten

Angesichts der sich zuspitzenden Krisen und der Schwäche der Linken ist Resignation der falsche Weg. Statt den Kopf im Sand zu stecken, gilt es den massiven Angriff auf die Lebensbedingungen der lohnabhängigen Klasse mit entschlossenem Klassenkampf zurückschlagen.

Um den Klassenkampf in dieser Etappe zu entwickeln, gibt es verschiedene Handlungsmöglichkeiten für die anarchistische und die link(radikal)e Bewegung sowie für unsere Klasse als Ganze. Wir wollen hier aufzeigen, welche Wege wir als sinnvoll erachten. Dabei ist klar, dass nicht alle dieser Vorschläge auf jedem Gebiet anwendbar sind. Handlungen sollten den spezifischen lokalen Bedingungen entsprechen.
  • Agitation und gemeinsamer Kampf mit den Kolleg:innen in den Betrieben gegen die Entwertung unserer Löhne! Breite Unterstützung von Streiks und anderen Formen des Arbeitskampf, in und außerhalb der Gewerkschaften!
  • Entschlossener Kampf von unten in den DGB-Gewerkschaften gegen die Anbiederung der Führung an das Kapital und für einen kämpferischen Kurs. Kein Vertrauen in die Funktionär:innen, keine Tarifabschlüsse, die zum Reallohnverlust führen!
  • Konsequenter Aufbau und Stärkung der FAU. Entwickeln wir gleichzeitig die kämpferische und basisdemokratische Alternative zu den DGB-Gewerkschaften weiter!
  • Initiierung von und Einmischung in Straßenprotesten gegen die Abladung der Krisenkosten auf unsere Klasse. Schrecken wir nicht vor diffusen Protestmilieus zurück, sondern gehen wir entschlossen hinein, machen wir unsere klassenkämpferische Position deutlich und drängen wir reaktionäre Positionen heraus!
  • Entwicklung des Widerstands in den Nachbarschaften gegen die Krise – ganz besonders gegen Energiesperrungen und Zwangsräumungen. Tun wir uns lokal zusammen mit unsere Nachbar:innen und greifen wir ein, wenn sie versuchen, einzelne anzugreifen!
  • Daran anknüpfend: Aufbau von kontinuierlich arbeitenden Mieter:innengewerkschaften und -netzwerken gegen Mietsteigerungen!
  • Selbstorganisierte Essensausgaben und Repair-Cafes. Wenn wir uns Essen und oder kleinere Reparaturen nicht mehr leisten können, dann braucht es gegenseitige Hilfe!
  • Allgemeine Verbreitung von Propaganda gegen die Herrschenden. Wir können uns nur selbst helfen!
  • Aufrechterhaltung der bisherigen sozialen Bewegungen. Die Kämpfe, die wir bisher gegen Faschismus, Rassismus, Patriarchat und Klimakrise geführt haben, müssen weitergehen!
  • In den kommenden Monaten und Jahren müssen diese Bewegungen auch in die Kämpfe gegen die Verteilung der Krisenkosten auf die lohnabhängige Klasse eingreifen. Dann, wenn die Rechten versuchen, Proteste zu starten oder zu unterwandern, muss die antifaschistische Bewegung sie vertreiben. Migrantische Menschen und FLINTAs sind besonders stark von der Krise betroffen und hier müssen antirassistische und feministische Bewegung eingreifen. Und zuletzt spielt die Energiefrage eine zentrale Frage für diese Krise wie auch für die Klimakrise. Die Klimabewegung muss sowohl gegen für den Stopp fossiler Energien kämpfen als auch für soziale Lösung der Krise. Der zentrale Motor und das verbindende Element unserer Kämpfe muss unsere gemeinsame Position als Lohnabhängige sein!
  • Protest gegen Aufrüstung und den Krieg in der Ukraine aufrechterhalten. Unterstützen wir weiter Geflüchteten und unsere Genoss:innen in der Ukraine und in Russland!
  • Internationalistischen Widerstand gegen die Invasion Rojavas vorbereiten!
  • Angesichts eines Corona-Winters den Widerstand sowohl gegen massive Eingriffe in unsere Leben als auch gegen Opfer-Politik der Ampel-Regierung vorbereiten!
  • Unsere Räume und Strukturen auf die neue Corona-Welle vorbereiten!

All das kann nur gelingen als eine gemeinsame Bewegung von unten, die allen Versuchen der sozialchauvinistischen, nationalistischen, rassistischen, sexistischen oder queerfeindlichen Spaltung der lohnabhängigen Klasse eine klare Absage erteilt. Nur vereint als Klasse werden wir den Angriff der Herrschenden, aber auch der reaktionären Kräfte abwehren können. Wenden wir uns also aktiv gegen reaktionäre Hetze und Spaltungsversuche und bauen wir gemeinsame Macht von unten auf!

BAUEN WIR EINEN BREITEN KLASSENWIDERSTAND GEGEN DIE ANGRIFFE VON OBEN AUF!
SCHAFFEN WIR GEGENMACHT VON UNTEN!
FÜR FREIHEIT UND SOZIALISMUS!

Referenzen

(1) https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/deutschland/

(2) https://www.zeit.de/gesundheit/2022-07/coronavirus-intensivstationen-infektionen-covid-erkrankungen-personalmangel)

(3) https://www.donaukurier.de/nachrichten/politik/umfrage-jeder-zweite-fuer-sofortige-verschaerfung-der-corona-massnahmen-6393792)

(4) https://www.zeit.de/gesundheit/2022-07/coronavirus-intensivstationen-infektionen-covid-erkrankungen-personalmangel)

(5) https://www.laenderdaten.de/gesundheit/corona-impfungen.aspx)

(6) https://www.pewresearch.org/fact-tank/2021/11/24/inflation-has-risen-around-the-world-but-the-u-s-has-seen-one-of-the-biggest-increases/)

(7) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/248024/umfrage/inflationsrate-weltweit/)

(8) https://www.capital.de/wirtschaft-politik/capital-erklaert-warum-steigen-gerade-die-energiepreise)

(9) https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/spritpreise-gewinne-mineraloelkonzerne-tankstellen-tankrabatt-1.5563562)

(10) https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/shell-totalenergies-repsol-big-oil-schwimmt-nur-so-in-geld/ar-AA103BR7)

(11) https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/PD22_272_611.html)

(12) https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/05/PD22_219_62321.html)

(13) https://www.tafel.de/fileadmin/media/Presse/Hintergrundinformationen/2022-04-29_TAFEL_Corona_Info.pdf)

(14) https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/tafeln-in-deutschland-gestiegene-lebenshaltungskosten-sorgen-fuer-zulauf-a-b33bafd8-33ed-4dc6-9dd4-cd78ab2d5c5b)

(15) https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/verlaengerung-kurzarbeitergeld-2003908)

(16) https://www.sueddeutsche.de/politik/steuersenkung-lindners-mitte-versprechen-1.5627356)

(17) https://www.tagesschau.de/inland/inflation-konzertierte-aktion-107.html)

(18) https://www.ende-gelaende.org/aufruf-2022/)

(19) https://perspektive-online.net/2022/06/reallohnsenkung-statt-gelungener-arbeitskampf-in-der-stahlbranche/)

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