Gemeinsam mit befreundeten anarchistischen Organisationen aus aller Welt haben wir vor Kurzem eine Erklärung zur aktuellen Lage bezüglich der Corona-Pandemie herausgegeben. Sie behandelt die Ursachen der Pandemie geht aber vor allem auf die Reaktion des Staates und die notwendigen Antworten des organisierten Anarchismus ein. Am Schluss zeigt sie Perspektiven für die kommende Monate und Jahre auf, in denen der Staat und die Kapitalist:innenklasse versuchen werden, die Kosten dieser Krise auf unsere Klasse abzuwälzen. Wir freuen uns, wenn ihr den Text lest und verbreitet!
Internationale anarchistische Erklärung zur Covid-19 Pandemie:
Niemand ist sicher, bis wir alle sicher sind!
Die Corona-Pandemie hat sich auf jeden Aspekt des menschlichen Lebens ausgewirkt. Sie hat verheerende Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit der Menschen, auf soziale Beziehungen und auf unsere Gemeinschaften, auf unseren Lebensunterhalt und unsere Bewegungsfreiheit. Sie hat auch unsere Möglichkeiten, wirksame politische Proteste zu organisieren, erheblich eingeschränkt und die Macht des Staates gestärkt.
Sie hat die grundlegenden Probleme des globalen Kapitalismus und sein Bedürfnis nach kontinuierlichem Wachstum und Profit deutlich gemacht. Die Unterstützung des Staates für diese Ziele ist der bestimmende Faktor für die Entstehung, die Ausbreitung und die tragischen Folgen der Pandemie. Die Notwendigkeit einer Revolution war noch nie so offensichtlich wie heute.
Während wir uns wehren, sind jedoch auch die Schwächen der Arbeiter:innenbewegung zutage getreten. Die Zahl der Todesopfer steigt, die Gesundheitssysteme sind überfordert, wichtige Arbeitskräfte werden als entbehrlich behandelt, und die wirtschaftlichen Kosten werden auf diejenigen abgewälzt, die es sich am wenigsten leisten können, doch der Widerstand ist verschwindend gering. Dennoch hat die Pandemie auch Aktionen und Empfindsamkeiten hervorgebracht, die für den sozialen Wandel von zentraler Bedeutung sind: Solidarität, gegenseitige Hilfe, Selbstorganisation und Internationalismus.
Covid-19 und andere Zoonose-Krankheiten, die in den letzten Jahrzehnten aufgetreten sind, werden durch die Ausbreitung des globalen Kapitalismus verursacht. Da der Kapitalismus immer mehr Land für die Abholzung, den Bergbau und die Agrarindustrie erobert, verlieren Wildtiere ihren Lebensraum und kommen mit Menschen in Kontakt, wodurch Krankheiten von anderen Arten auf den Menschen übergreifen können. Diese Situation wird durch die Nachfrage nach exotischem Tierfleisch durch die wachsende Mittel- und Oberschicht auf der ganzen Welt noch verschärft.
Die Reaktion der Bosse und des Staates
Obwohl einige Länder eine Null-Covid-Strategie verfolgten, strebte die Mehrheit eher eine Eindämmung als eine wirklich Beendigung der Pandemie an. Das lag vor allem daran, dass man die Wirtschaft so weit wie möglich am Laufen halten wollte und die Gewinne über die Gesundheit der Menschen stellte. Das Ergebnis ist, dass die Pandemie viel länger als nötig gedauert hat. Arbeiter:innen in sogenannten “systemrelevanten Berufen”, die ohnehin zu den am schlechtesten bezahlten Lohnabhängigen gehören, wurden übermäßig ausgebeutet, da sie die Hauptlast der Krise zu tragen hatten. Das Fehlen eines gut finanzierten Gesundheitssystems führte zu zahllosen Todesfällen, und viele Arbeiter:innen waren gezwungen, wegen der unzureichenden Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu arbeiten. In der Zwischenzeit machten viele Unternehmen ihre Gewinne, und die Kluft zwischen Arm und Reich wurde immer größer.
Für einige Regierungen war der Impfstoff der wichtigste Teil ihrer Strategie zur Bekämpfung von Covid. Und obwohl der Impfstoff eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung von Covid spielt, sind grundlegende Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ebenfalls unerlässlich. Die Regierungen haben es jedoch vorgezogen, sich auf den Impfstoff zu verlassen, weil er den Pharmaunternehmen enorme Gewinne beschert und die Abschaffung aller Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit die Menschen in Arbeit und Konsum hält (Anmerkung der Plattform: Wir denken, dass sich die Regierungen weniger deshalb auf den Impfstoff verlassen haben, weil es den Pharmakonzernen mehr Profite eingebracht hat, sondern eher deshalb, weil es schlicht die kostengünstigere und strukturell weniger aufwändige Alternative zu starken Eingriffen in den kapitalistischen Alltag oder einer grundlegenden Stabilsierung des Gesundheitssystems war und ist).
Die Einführung des Impfstoffs hat auch globale Ungleichheiten aufgezeigt. Die meisten Impfstoffe sind an die wohlhabenderen Länder gegangen, die es sich leisten können, dafür zu bezahlen. Forderungen, auf Patentrechte zu verzichten, damit mehr Impfstoffe produziert werden können, stießen auf taube Ohren, was zeigt, dass die Gewinne der Pharmaunternehmen für die Regierungen wichtiger sind. Jedes Land ist auf sich allein gestellt, und es gibt kaum internationale Koordinierung oder Solidarität.
Die Antwort des organisierten Anarchismus
Unsere Organisationen haben sich an einer Vielzahl von Kämpfen beteiligt: für sichere Arbeitsplätze und Bildungseinrichtungen, für gegenseitige Hilfe und Solidarität in den Nachbarschaften und gegen die Angriffe auf die Arbeiter:innen, mit denen Kapitalist:innen und Regierungen versuchen, sich das Geld zurückzuholen, das sie ausgeben mussten.
Der Lockdown war eine schwierige Zeit für uns, da unsere üblichen politischen Aktivitäten nicht möglich waren. Trotzdem haben wir uns nicht der Anti-Lockdown-Bewegung angeschlossen. Organisierte Anarchist:innen glauben an die Selbstorganisation. Wir halten uns nicht an Regeln, weil die Regierung es uns vorschreibt, sondern wir halten uns an Regeln, die wir selbst kollektiv entwickelt haben. Das ist der Kern des Problems mit dem Lockdown: Regeln wurden den Menschen auferlegt, ohne dass sie von den Menschen selbst aufgestellt wurden.
Sie entstammen nicht den Erfahrungen der Menschen in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz, sondern wurden mit anderen Zielen im Hinterkopf entwickelt. Dies hat zu verwirrenden und widersprüchlichen Botschaften geführt und ein allgemeines Durcheinander geschaffen, das dazu geführt hat, dass viele die Leitlinien ignorieren, sei es als Einzelpersonen, an Arbeitsplätzen oder an anderen Orten.
Unsere Ideen beruhen auf den Grundprinzipien des organisierten Anarchismus: Selbstorganisation, Solidarität und gegenseitige Hilfe. Wir brauchen weder die Regierung, die uns sagt, was wir zu tun haben, noch müssen wir gegen unseren eigenen gesunden Menschenverstand verstoßen, nur weil die Regierung die Wirtschaft am Laufen halten will. Natürlich ist es für die Menschen schwer, das zu tun, was am besten ist, wenn sie sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden. Deshalb sind Klassenorganisation und Klassenkampf ein wesentliches Element einer jeden Strategie.
Eine revolutionäre Bewegung schaffen
Organisierte Anarchist:innen glauben, dass die Menschheit ohne eine völlig neue Gesellschaft – eine Gesellschaft ohne Kapitalismus, Staat und Hierarchien – nicht überleben kann. Erstens wird diese Pandemie keine einmalige Sache sein. Angesichts des ausbeuterischen Verhältnisses zwischen Menschen einerseits und Tieren und der Natur andererseits sind weitere zu erwarten. Der Kapitalismus hat die zugrunde liegenden potenziellen Gefahren an die Oberfläche gebracht. Der Klimawandel und der katastrophale Verlust der biologischen Vielfalt und der Lebensräume untergraben die Existenz der Menschheit auf der Erde an ihren Grundfesten. Auch hier haben der Kapitalismus und die Wachstumswirtschaft diesen Prozess beschleunigt, indem sie die Erde auf der Jagd nach allen verfügbaren Ressourcen geplündert haben. Man hätte denken können, und das taten anfangs auch viele, dass die Erfahrung der Pandemie eine neue Lebensweise inspirieren würde – eine mit mehr gegenseitiger Hilfe, Solidarität und Respekt für die Umwelt. Doch dieser Optimismus ging sehr schnell verloren; schon bald kehrten wir zur Tagesordnung zurück, und die Regierungen waren bestrebt, uns alle wieder zum Geldausgeben zu bewegen. Die staatliche Förderung des Flugverkehrs ist ein Paradebeispiel für die völlige Missachtung des Klimawandels. Die Ausbeutung fossiler Brennstoffe und die Abholzung von Wäldern haben sich während der gesamten Pandemie fortgesetzt. In dem verzweifelten Bemühen, die Gewinne der Unternehmen wieder zu steigern, wird der Klimawandel noch einige Zeit länger in den Hintergrund treten.
In der nächsten Zeit werden sich die Menschen weitgehend darauf konzentrieren, mit den Angriffen der Regierung und der Kapitalist:innen fertig zu werden, die versuchen, die Arbeiter:innenklasse für die Kosten von Covid aufkommen zu lassen. Wir werden einen Großteil unserer Zeit damit verbringen, diese wirtschaftlichen Kämpfe zu führen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeiter:innenklasse geeint ist, damit wir uns gegenseitig unterstützen und sicherstellen können, dass die am schlechtesten Gestellten umfassend unterstützt werden. Wir brauchen Solidarität und gegenseitige Hilfe, anstatt dass jeder in einem Betrieb, einer Gewerkschaft oder einer benachteiligten sozialen Gruppe für sich selbst kämpft. Das gesamte Wesen der Arbeit muss in Frage gestellt werden. Das wurde in der Pandemie deutlich, als wir klar sehen konnten, welche Arbeit wirklich wichtig ist. Das ist sehr schwierig, weil die Menschen verständlicherweise ihre Arbeit nicht aufgeben wollen – selbst wenn diese Arbeit entfremdend und schädlich für sie selbst und den Rest des Planeten ist.
Es ist unsere historische Aufgabe, immer wieder auf die Notwendigkeit einer Revolution hinzuweisen. Wir können uns nicht weiterhin nur auf die unmittelbaren Probleme konzentrieren, mit denen wir konfrontiert sind, und versuchen, lediglich das Schlimmste abzuwenden und ein paar Krümel zu ergattern. Wir müssen das gesamte System in Frage stellen. Eine Strategie wird an einem bestimmten Ort – einer Nachbarschaft, einem Arbeitsplatz – ansetzen, aber sie muss fest in eine internationale Perspektive eingebettet sein. Wir können aus unseren Erfahrungen mit der Pandemie lernen, die viele Menschen dazu zwang, ihr Leben auf ihre unmittelbare Umgebung zu beschränken – ihr Zuhause, ihre Nachbar*innen, ihre Gemeinschaft und deren Grünflächen. An einem bestimmten Ort, rund um Themen, die wir selbst erleben können, entstehen Bewegungen für viel größere Veränderungen.
Dennoch ist der Blick über den Tellerrand unerlässlich, denn die notwendigen Veränderungen sind sowohl groß als auch voneinander abhängig. Die Gründe für die Probleme an einem bestimmten Ort liegen in den Entscheidungen, die in den Vorstandsetagen der Unternehmen getroffen werden oder sind das Ergebnis von Marktkräften, die sicherstellen, dass der Profit das wichtigste Kriterium ist.
Obwohl der Klimawandel auch ein globales Problem ist, war die Pandemie viel unmittelbarer und persönlicher. Jede:r konnte nicht umhin, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass wir alle miteinander vernetzt sind. Das bedeutet, dass es ein Potenzial für die Entwicklung international ausgerichteter Bewegungen gibt. Der Slogan “Wir sind erst dann sicher, wenn alle sicher sind” ist Teil des Denkens vieler geworden. Die Zukunft hängt davon ab, inwieweit es uns gelingt, auf den positiven Aspekten der Reaktion der Arbeiter:innenklasse aufzubauen und eine Bewegung zu schaffen, die über die unmittelbaren Sorgen und Forderungen hinausgeht und uns zu einem grundlegenden Bruch mit dem Kapitalismus und zu einer anarchistischen Gesellschaft führen wird.
☆ Alternativa Libertaria – Italien
☆ Anarchist Communist Group – Großbritannien
☆ Αναρχική Ομοσπονδία (Anarchistische Föderation) – Griechenland
☆ Aotearoa Workers Solidarity Movement – Aotearoa/Neuseeland
☆ Coordinacion Anarquista Latinoamericana (Coordenaçao Anarquista Brasileira – Brasilien, Federacion Anarquista Uruguya – Uruguay, Federacion Anarquista de Rosario – Argentinien)
☆ Die Plattform, Anarchakommunistische Föderation
☆ Embat, Organització Llibertària de Catalunya – Katalonien
☆ Karala, Anarchistische Gruppe – Ankara, Türkei
☆ Libertäre Aktion – Schweiz
☆ Melbourne Anarchist Communist Group – Australien
☆ Organisation Socialiste Libertaire – Schweiz
☆ Roja y Negra – Anarchistische Organisation – Buenos Aires, Argentinien
☆ Union Communiste Libertaire – Frankreich, Belgien und Schweiz
☆ Grupo Libertario Via Libre – Bogota, Kolumbien
☆ Zabalaza Anarchist Communist Front – Südafrika