Flugblatt: „Wir finden einen Weg, indem wir voranschreiten“

Die Rebellion, die dem Polizeimord an George Floyd folgte, hat in den USA und weit darüber hinaus mit einem Paukenschlag die gesellschaftliche Schockstarre des Covid-19-Lockdown beendet und den sozialen Konflikt erneut auf die Tagesordnung gebracht. Sie hat Millionen großteils junger Menschen zum politischen Kampf mobilisiert und sie hat in dramatischer Weise die gesellschaftliche Debatte verschoben: Noch vor wenigen Wochen wäre die Forderung nach der Abschaffung der Polizei als Spinnerei einiger linksradikaler Wirrköpfe abgetan worden. Heute wird sie bis in die gesellschaftliche Mitte hinein diskutiert – wenn auch liberale Bewegungsmanager*innen sich bemühen, sie mit dem Slogan defund the police (etwa: „Kürzt der Polizei die Mittel“) zu entschärfen.

Im Moment werden auf den Straßen US-amerikanischer Städte unzählige Debatten darüber geführt, was die nächsten Schritte der Bewegung sein könnten. Wie soll weiter vorgegangen werden, um gegen strukturellen Rassismus und Polizeigewalt nicht nur zu protestieren, sondern diese wirklich zu überwinden? Ein Beitrag zu diesen Debatten ist der folgende Text, der von Aktivist*innen in mehreren Städten der USA auf Demos verteilt wurde.

Wir halten ihn für ein gelungenes Beispiel politischer Intervention: Er geht von beispielhaften Aktionen aus, die aus der Bewegung heraus bereits jetzt passieren, knüpft an diese weitere Vorschläge des kollektiven Handelns an und lässt dabei unaufdringlich die Vision einer radikal anderen Gesellschaft aufscheinen. Dabei kommen die Autor*innen ohne abgegriffene Schlagworte und abstrakte Parolen aus, die mit dem Alltag der Adressat*innen nichts zu tun haben.

Wir dokumentieren eine Übersetzung des Textes in der Hoffnung, dass er auch hier, in einem ganz anderen politischen Kontext, zur Inspiration beitragen mag.

„Wir finden einen Weg, indem wir voranschreiten“

Eine Parole von einem anderen Ort, einer anderen Zeit, einem anderen Kampf. Aber auch Worte, die uns hier und jetzt, in diesem Kampf, helfen können.

Lasst uns gemeinsam weitergehen: Lasst uns weiter demonstrieren, blockieren und die normalen Abläufe stören. Aber lasst uns auch darüber nachdenken, wie wir gemeinsam andere Schritte unternehmen können. Letztlich ist ein Protest in erster Linie eine Demonstration kollektiver Willenskraft und Stärke. Das ist wichtig, aber leider hat sich gezeigt, dass dies einfach nicht ausreicht. Unser Kampf zur Bewältigung der eng miteinander verknüpften Probleme von Rassismus, Polizeigewalt und Armut muss in unser tägliches Leben und in die Vielzahl unserer Beziehungen eindringen, um einen dauerhaften Wandel herbeizuführen, einen Gezeitenwechsel in dem, was es bedeutet, schwarz, braun, weiß, amerikanisch . . . zu sein. In diesem Sinne gibt es eine unendliche Anzahl von Methoden, über die Menschen im ganzen Land nachdenken und mit denen sie experimentieren. Aus dem Zentrum des Ganzen, Minneapolis, gehen drei besonders vielversprechende Wege hervor, die es verdienen, eingehender erforscht zu werden.

I.Besetzung von ungenutztem Raum

Dort nahm diese Idee die Form von Obdachlosen-Unterstützer*innen an, die ein leeres Hotel besetzten und es in eine selbstorganisierte Unterkunft verwandelten: eine Oase vor Polizeigewalt und der Gewalt, nicht das zu haben, was man braucht. Unsere Stadt ist voll von leeren Gebäuden, die als Bewegungszentren, Kliniken, Unterkünfte, Küchen und alles andere, was wir uns vorstellen können, genutzt werden könnten. Es gibt unzählige leere Grundstücke, die genutzt werden könnten, um eine neue und schöne Vision von Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung zu schaffen. Phantasie, Entschlossenheit und die Kraft der Menschen um uns herum sind alles, was wir brauchen, um anzufangen.

II.Organisation in der Nachbarschaft

In der Nacht, in der die Nationalgarde zum Einsatz gebracht wurde, trafen sich Nachbar*innen in Minneapolis miteinander. Fremde stellten sich einander vor, Telefonnummern wurden ausgetauscht, Ängste und Eventualitäten in Ruhe besprochen. Einige patrouillierten in ihren Straßen, nicht als reaktionäre Bürgerwehr, sondern als unterstützende Nachbarn, die aufeinander aufpassten. Andere schufen Eimerbrigaden, um alle Brände zu löschen, die versehentlich auf Wohngebiete übergreifen könnten. In vielen Straßen wurden symbolische Barrieren errichtet: eine Botschaft an die Polizei, dass sie weder erwünscht ist noch gebraucht wird. Einige wenige gingen noch weiter und errichteten echte Barrikaden, um die Bewegung der paramilitärischen Kräfte des Staates zu verhindern. Hier in ___ müssen wir unsere Wohnblöcke vielleicht nicht absperren, aber wir könnten sicherlich mehr sozial verbundene Nachbar*innen gebrauchen. In Minneapolis haben nicht nur einige Leute die Polizei direkt angriffen, sondern andere machten sie einfach irrelevant. Wenn die Abschaffung der Polizeidienststellen ein Ziel ist, das es wert ist, ernst genommen zu werden, dann sollten wir uns mit unseren Nachbarn organisieren, um sicherzustellen, dass all unsere Bedürfnisse befriedigt werden, um Probleme vor Ort anzugehen, um Sicherheit in uns selbst zu finden und nicht in einer äußeren Kraft, die nur eine Lösung für jedes Problem kennt; dann ist auch das etwas, was man ernst nehmen sollte.

III. Gegenseitige Hilfe

Die Netzwerke, die geschaffen wurden, um auf die durch die Pandemie entstandenen Bedürfnisse einzugehen, blühten nach den Unruhen auf. Die Hauptstraßen in Minneapolis waren voll mit Menschen, die kostenlos Lebensmittel und Wasser verteilten. Diejenigen, die Autos zur Verfügung hatten, organisierten sich über sichere Chatgruppen zu einem schnellen Ambulanz- und Taxidienst, der die Verletzten in Krankenhäuser und die Gestrandeten nach Hause brachte. Sogar Plünderer legten manchmal ihre kürzlich erworbenen Güter zusammen, um sie allen zu teilen, die sie wollten oder brauchten. Hier in ___ existieren diese Netzwerke der materiellen Unterstützung bereits. Einige haben vorgeschlagen, diejenigen, die in den kommenden Monaten von der Zwangsräumung aus ihren Wohnungen bedroht sind, mit unseren Körpern und unserer kollektiven Kraft zu verteidigen. Andere bemühen sich darum, Gelder, Nahrungsmittel und Vorräte für jeden, der sie braucht, zusammenzulegen. Jetzt ist es an der Zeit, diese Bemühungen mit unseren eigenen Mitteln zu verstärken und auch neue Initiativen zu schaffen.

Lasst aus den Waldbränden der vergangenen Woche die Blumen einer neuen Wiese erblühen!

‘We make the path by walking’

A slogan from another place, another time, another struggle. But also words that can help us here, and now, in this fight.

Let’s keep walking together: let’s keep marching, blockading and disrupting. But let’s also think about how to take other steps together. At the end of the day, a protest is primarily a demonstration of collective willpower and strength. This is vital, but sadly, it has proven to be simply not enough. Our struggle to address the intimately linked problems of racism, policing, and poverty has to enter into our daily lives and the multitude of our relationships in order to create an enduring change, a tidal shift in what it means to be black, brown, white, American . . . In that spirit, there are an infinite number of methods that people all across the country are thinking about and experimenting with. From the center of it all, Minneapolis, emerge three particularly promising avenues that deserve to be explored in greater depth.

O N E

Occupation of unused space: There this idea took the form of homeless advocates occupying an empty hotel and turning it into a self-organized shelter: an oasis from police violence and the violence of not having what you need. Our city is full of empty buildings that could be used as movement centers, clinics, shelters, kitchens and anything else we can imagine. There are countless empty lots that could be used to create a new and beautiful vision of agriculture and food supply. Imagination, determination, and the power of the people around us are all that we need to begin.

T W O

Neighborhood organization: On the night that the national guard was deployed in force, neighbors in Minneapolis met with each other. Strangers were introduced, phone numbers shared, fears and contingencies calmly discussed. Some patrolled their streets, not as reactionary vigilantes, but as supportive neighbors looking out for each other. Others created bucket brigades to put out any fires that might accidentally spread to residential areas. Many streets saw the construction of symbolic barriers: a message to the police that they were not wanted or needed. A few went further to create actual barricades, preventing the movement of the State’s paramilitary forces. Here in ___, we may not need to lock down our blocks, but we certainly could do with more socially connected neighbors. Not only did some people directly attack the police in Minneapolis, but others simply made them irrelevant. If the abolition of police departments is a goal worth taking seriously, then organizing with our neighbors to make sure all our needs are being met, to address problems locally, to find safety in ourselves rather than an outside force that knows only one solution for every problem; then this is something to take seriously as well.

T H R E E

Mutual-Aid: The networks that were created to address needs brought on by the pandemic blossomed in the aftermath of the rioting. Major streets in Minneapolis were crowded with people handing out free food and water. Those with cars organized themselves via secure text threads into a rapid response ambulance and taxi service, taking the wounded to hospitals and the stranded to their homes. Even looters sometimes pooled their recently acquired resources to share for anyone who wanted or needed them. Here in ___, these networks of material support already exist. Some have suggested defending those facing eviction in the coming months with our bodies and our collective strength. Others are working to crowdsource funds, food and supplies for anyone who needs it. Now is the time to reinforce these efforts with our own resources and create new initiatives as well.

From the forest fires of the past week, let the flowers of a new meadow bloom!