Heute vor 50 Jahren fahren Panzer in den Straßen der chilenischen Hauptstadt Santiago auf. Kampfflugzeuge beschießen den Regierungspalast. Das Militär putscht gegen die sozialistische Regierung unter Salvador Allende – unter eifriger Beihilfe der CIA und unter Mitwissen des westdeutschen BND. Der Putsch dient als Auftakt für eine brutale Militärdiktatur, die in den nächsten Jahrzehnten Tausende sozialistische Aktivist:innen und andere Dissident:innen foltern und ermorden und Zehntausende ins Exil treiben wird.
Anlässlich dieses traurigen Jubiläums haben wir als internationale anarchistische Koordination, gemeinsam mit unseren chilenischen Genoss:innen, eine Erklärung verfasst. Sie macht klar: Den Opfern der Diktatur zu gedenken, heißt heute weiterzukämpfen für die befreite Gesellschaft. Die Erfahrungen der selbstorganisierten Kämpfe aufzugreifen und sie umzuwandeln in Klassenkampf und Macht von unten! In diesem Kampf stehen wir an der Seite unserer chilenischen Genoss:innen und aller Menschen, die in Chile für eine bessere Gesellschaft kämpfen.
Nichts und niemand ist vergessen!
Erklärung
Vor fünfzig Jahren ließ der zivil-militärische Putsch in dem vom chilenischen Staat beherrschten Gebiet dem Staatsterrorismus freien Lauf und brachte für die Unterdrückten jahrelange Verfolgung, Folter, Vergewaltigung und gewaltsames Verschwindenlassen. Heute wehren wir uns weiterhin gegen das Vergessen und halten die Erinnerung unserer Klasse aufrecht.
In unserem Bestreben, um die Erinnerung zu kämpfen, erkennen wir die Notwendigkeit, den Prozess sichtbar zu machen und nicht zu vergessen, der sich abseits der Parteiführungen der Unidad Popular (1) und ihrem Projekt der kapitalistischen Modernisierung abspielte; dieser Prozess, der die bürgerliche Institutionalität herausforderte und von Nachbar:innen, Arbeiter:innen und Bäuer:innen durch organisatorische Erfahrungen getragen wurde, die wir heute als selbstverwaltete und revolutionäre Macht von unten bezeichnen.
Ebenso darf die Antwort der parlamentarischen Linken nicht übersehen werden, die sich angesichts der Erfahrungen der Selbstverwaltung und des revolutionären Bruchs stattdessen für Kooptation (2), Repression und die Institutionalisierung des Kampfes entschied. Damit förderte sie eine Versöhnung der Klassen. Die Lektion, die wir gelernt haben, ist, dass keine soziale Kraft sich dem Instrument der Regierung andienen sollte. Es ist notwendig, über die politischen Initiativen, die den Protagonismus der Menschen von unten untergraben und den institutionellen Richtlinien folgen, hinauszugehen und sie zu überwinden. Heute wie damals müssen wir Projekten entgegentreten, die durch extraktivistische und repressive Absichten die Herrschaft nur stärken und nähren.
Bei unserem Gedenken geht es daher um die Entwicklung einer organisierten sozialen Kraft, die in der Lage ist, mit dem gegenwärtigen historischen Trend zu brechen. Eine Kraft, die sich nicht von institutionelle Abkürzungen und und vermeintlich schnellen Lösungen verführen lässt, die Messianismus (3) überwindet und die von der Bourgeoisie geförderten Ideen und Praktiken zurückdrängt – sei es in ihrer faschistischen, liberalen oder progressiven Form.
Ausgehend vom organisierten und sozialen Anarchismus sehen wir es als vorrangig an, die Gegenwart und die Zukunft mit einem antistaatlichen, antikapitalistischen, antirassistischen und antipatriarchalen revolutionären Projekt zu bestreiten, das die unschätzbaren Erfahrungen des Kampfes und des Widerstands, die sich heute im würdevollen Gedächtnis der organisierten Menschen angesammelt haben, wieder aufgreift. Wir sind zuversichtlich, dass dieser Weg der Erinnerung, des Kampfes und der Organisierung uns unserer Emanzipation näher bringt.
Arriba lxs que luchan! Hoch mit denen, die kämpfen!
(1) Die Unidad Popular (UP) war ein Wahlbündnis von linken chilenischen Parteien und Gruppierungen, das am 17. Dezember 1969 gegründet wurde. Unter der Regierung der UP wurden grundlegende soziale Reformen in Chile eingeführt, die vor allem der Arbeiter:innenklasse zugutekamen. Am 11. September 1973 wurde die Regierung durch das Militär unter Führung des von den US-amerikanischen Geheimdiensten unterstützten General Augusto Pinochet durch einen Putsch gestürzt und eine Diktatur errichtet.
(2) Kooptation meint hier, dass die parlamentarische Linke die Kontrolle über die eigenständigen Kämpfe von unten anstrebt oder sogar erfolgreich übernimmt.
(3) Messianismus meint hier einerseits die Vorstellung, dass eine politische Führungsperson oder eine Partei den Unterdrückten die Rettung bringt und dass es nur darum gehe auf diese zu warten oder ihr zu folgen. Andererseits meint es die Attitüde eben dieser Personen und Parteien, die sich über die Menschen als angebliche Retter:innen erheben.
☆ Coordinación Anarquista Latinoamericana (Federacion Anarquista Uruguaya, Federación Anarquista de Rosario, Coordinación Anarquista Brasileña)
☆ Organisation Socialiste Libertaire (OSL) – Schweiz
☆ Embat, Organització Llibertària de Catalunya – Katalonien, Spanischer Staat
☆ Federación Anarquista Santiago (FAS) – Chile
☆ Black Rose Anarchist Federation / Federación Anarquista Rosa Negra (BRRN) – USA
☆ Libertäre Aktion (LA) – Schweiz
☆ Union Communiste Libertaire (UCL) – Frankreich
☆ Grupo Libertario Vía Libre – Kolumbien
☆ Die Plattform – Deutschland
☆ Roja y Negra Organización Politíca Anarquista – Argentinien
☆ Anarchist Communist Group (ACG) – Großbritannien
☆ Alternativa Libertaria (AL/FdCA) – Italien
☆ Organización Anarquista de Córdoba – Argentinien
☆ Organización Anarquista de Santa Cruz – Argentinien
☆ Organización Anarquista de Tucuman – Argentinien