Zehn Tage nach dem Mord an dem 17-jährigen Nahel durch einen Polizisten im französischen Nanterre sind die darauf tagelang folgenden, wütenden Massenproteste größtenteils wieder zurückgegangen.
Umso stärker schlägt nun die Repression des französischen Staates zu. Jugendliche werden in Schnellverfahren zu monatelangen Haftstrafen verurteilt. Der rassistische gesellschaftliche Diskurs verschärft sich bis in die höchsten politischen Ebenen hinein.
Es wird sehr deutlich: Die gesellschaftlichen Zustände, die Nahels Ermordung ermöglicht haben, sind immer noch da und sie verstärken ihren Würgegriff gegen die Viertel der Arbeiter:innenklasse. Es gibt daher keine Wahl: Der Kampf muss weitergehen.
Wir haben die jüngste Erklärung unserer französischen Schwesterorganisation Union Communiste Libertaire übersetzt, in welcher diese die Reaktionen auf die Revolte sowie die rassistischen gesellschaftlichen Zustände in Frankreich analysiert und aufzeigt, welche Richtung der Kampf für echte Gerechtigkeit für die Arbeiter:innenviertel einschlagen muss, um erfolgreich zu sein. Wir schließen uns ihren Forderungen an.
Wahrheit und Gerechtigkeit für Nahel und alle anderen Opfer der Polizei!
Schluss mit der Kriminalisierung der legitimen Massenproteste!
Nieder mit der Polizei und ihrer Gewalt!
Gerechtigkeit für die Arbeiter:innenviertel!
Nach der Ermordung des jungen Nahel durch zwei Polizisten, wie auch 2005 nach dem Tod von Zied und Bouna, revoltierte die Jugend in den Arbeiter:innenvierteln eine ganze Woche lang.
Das Ausmaß der Revolte ist eine verhältnismäßige Antwort auf diesen neuen Mord, der in einer Reihe steht mit so vielen anderen Morden in den letzten 20 Jahren. Zwei Wochen vor Nahels Tod starb ein 19-jähriger Mann in Angoulême durch die Kugeln der Polizei, weil er sich geweigert hatte, ihren Befehl auszuführen. Sein Name war Alhoussein. Seit Nahels Tod starb ein 27-jähriger Mann in Marseille in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli, vermutlich an den Folgen eines LBD-Beschusses (Anmerkung der Übersetzung: Als LBD werden angeblich nicht tödliche Projektilwaffen bezeichnet, die die französische Polizei seit einigen Jahren verwendet).
Die Antwort des Staates ist immer die gleiche: autoritär, stigmatisierend, rassistisch und kolonial.
Autoritär, weil er sich im Namen der “Aufrechterhaltung der Ordnung” erlaubt, die Armee auf die Straße zu schicken: die GIGN (Anmerkung: Spezialeinheit der französischen Polizei), die Panzer der Gendarmerie, die BRI (Anmerkung: Spezialeinheit der französischen Polizei, üblicherweise bei schwerem Raub oder Geiselnahmen eingesetzt), die RAID (Anmerkung: Eliteeinheit der französischen Nationalpolizei). Die Polizei lässt es sich gut gehen und hält sich in den Arbeiter:innenvierteln in keiner Weise zurück.
Videos von gewalttätigen Festnahmen, Schüssen auf die Menge und Prügelorgien kursieren bereits in den sozialen Netzwerken. In einigen Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt, die sozialen Netzwerke werden überwacht und zensiert, der öffentliche Nahverkehr wird eingestellt, sodass die Arbeiter:innen in den Vierteln selbstständig nach Hause gehen müssen.
Stigmatisierend und rassistisch, denn angesichts dessen gibt es keinen Dialog, sondern eine Stigmatisierung der Eltern, der “Randalierer:innen”, die als unkontrollierbarer, grundloser, bestialischer und wilder Mob dargestellt werden: ein Klassiker der kolonialen Rhetorik. Das findet sich auch in dem Kommuniqué der Polizeigewerkschaften Alliance Police und UNSA Police wieder, das glücklicherweise von ihren Dachverbänden angeprangert wurde. In ihrem Kommuniqué rufen sie zu einem regelrechten rassistischen Bürgerkrieg auf. Es ist darin von “Schädlingen” die Rede, von “Krieg” und “wilden Horden” – die Entmenschlichung ist vollkommen.
Der Mord an Nahel wird beiseite geschoben oder seine Darstellung weitgehend von rassistischen Logiken und einer Verurteilung der Revolte beeinflusst: Die IGPN (Anmerkung: Polizeiinspektion, die bei Regelverstößen von Polizeibeamt:innen ermitteln soll) rühmt sich, nicht dieselben Sätze auf dem Video gehört zu haben, obwohl es von Millionen Menschen angesehen wurde. Nahels Mutter würde laut den Medien nicht die Haltung einer trauernden Mutter einnehmen.
Nahel sei ein Wiederholungstäter, und man hört überall, dass er kein “Engel” sei. Noch schockierender – wenn das überhaupt möglich ist – ist, dass die Spendenkampagne zur Unterstützung der Familie des Polizisten über eine Million Euro angehäuft hat. Die Botschaft ist klar: Töten Sie einen 17-jährigen und sie werden Millionär.
Die Repression erfolgt auch durch die Justiz. Seit einigen Tagen platzen die Gerichte aus allen Nähten. Ein Schnellverfahren gegen Jugendliche, die ihre Rechte nicht kennen, reiht sich an das nächste und ihre Familien machen die ganze Nacht kein Auge zu. Die Politiker:innen bestehen darauf, dass die Strafen – gemäß dem Rundschreiben von Justizminister Moretti – hoch sind und die Gerichte öffnen auch sonntags, um die Jugendlichen abzuurteilen.
Und schließlich gehen faschistische Gruppierungen, wie in Angers, Chambéry oder Lyon, mit Eisenstangen bewaffnet auf die Straße, um Selbstjustiz zu üben.
Nach der Phase des sogenannten “Aufruhrs” darf die Wut nicht verstummen und nicht isoliert bleiben.
Denn was hat sich seit 2005 geändert? Die Bewohner:innen der Arbeiter:innenviertel kennen den Rassismus, die Gewalt, die Diskriminierung und die Demütigungen durch die Polizei, aber auch die Demütigungen vor Gericht, die Demütigungen im Alltag: in den Ämtern für Sozialleistungen, in der Schule, am Arbeitsplatz, die übertriebene mediale und politische Stigmatisierung der Immigration, der Muslim:innen und so weiter. Die Begriffe wie “Dezivilisierung”, die auf höchster Ebene des Staates verwendet werden, fördern den institutionellen Rassismus. Hinzu kommen das Separatismus-Gesetz (Anmerkung: Dieses kürzlich verabschiedete Gesetz soll sich vor allem gegen angebliche “islamische Parallelgesellschaften” wenden) und die Lizenz zum Töten, die der Polizei 2017 erteilt wurde (Anmerkung: Dieser Satz spielt an auf die Deregulierung der polizeiliche Handlungsrichtlinien zum Gebrauch von Waffen in Auseinandersetzungen). Auf sozialer Ebene stranguliert die Inflation die Bewohner:innen und seit 2017 hat die Macronie der Jugend in den Stadtvierteln nur die Uberisierung (Anmerkung: Dieser Satz spielt auf das Unternehmen “Uber” an, für das viele junge Menschen aus den armen Stadtteilen zu prekären Bedingungen arbeiten) als Lösung angeboten: rassistische Diskriminierungen optimieren und unterwerfen in der Prekarität. Das soziale Elend und alle seine menschlichen Folgen verurteilen die Jugendlichen: Zu Prekarität, Arbeitslosigkeit, Niedriglöhnen, Abbau und Verschwinden der öffentlichen Dienstleistungen und generell jede Form der kollektiven Solidarität. Diese Aufstände in den Stadtvierteln müssen das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Staat und die Politik für die Reproduktion einer rassistischen Gesellschaft verantwortlich sind. Auch wenn der Schuss des Polizisten auf Nahel in erster Linie eine rassistische Einzeltat ist, sollten wir nicht vergessen, dass er durch das Funktionieren der Institutionen weitgehend ermöglicht wird.
Wir rufen zu einer unbefristeten Kampagne auf, um Gerechtigkeit für die Arbeiter:innenviertel zu fordern, und rufen dazu auf, sich den geplanten Demonstrationen anzuschließen oder selbst welche zu organisieren.
- Wir fordern Gerechtigkeit und Wahrheit für alle Familien, die einen Angehörigen durch die Polizei verloren haben und die sofortige Streichung der polizeilichen Deregulierung von 2017, des Gesetzes über die umfassende Sicherheit (Anmerkung: Dieses 2021 verabschiedete Gesetz gab der Polizei mehr Befugnisse und stärkte die Möglichkeiten der Überwachung) und die Entwaffnung der Polizei. Wir fordern, dass diese Verbrechen als rassistische Verbrechen eingestuft werden, indem die gesamte Kette der Verantwortlichen angeprangert wird.
- Wir prangern die Polizei als das an, was sie ist: eine rassistische, koloniale Institution, die immer mehr in faschistoide Tendenzen abrutscht und nur noch eine Funktion der Klassenkontrolle wahrnimmt. Angesichts der Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate ist als erster Schritt die Auflösung der BRAV-M (Anmerkung: Eine gegen die Gelbwesten gegründete Spezialeinheit von Polizist:innen auf Motorrädern) erforderlich, wie auch die der BAC (Anmerkung: Auf verdeckte Ermittlungen und schnelles Eingreifen spezialisierte Einheit der Nationalpolizei), die schon seit Jahren hätte erfolgen müssen.
- Wir fordern die Abschaffung des Separatismus-Gesetzes, die Legalisierung von undokumentierten Migrant:innen, ein Ende der systematischen Diskriminierung und der rassistischen Hassreden.
- Wir fordern die Freilassung der Verhafteten und eine Amnestie für die seit letzter Woche im Zusammenhang mit dem Aufstand Verurteilten.
- Wir fordern die massive Umverteilung aller öffentlichen Dienstleistungen (Wohnungsbau, Gesundheit, Schule, Transport) und entsprechende (nicht prekäre) Arbeitsplätze für die Bewohner:innen dieser Viertel, finanziert durch die Neuverteilung des Reichtums.
- Wir fordern die Kontrolle der Preise für Grundnahrungsmittel durch die Bevölkerung. Die Bourgeoisie hat sich auf dem Rücken der Arbeiter:innenviertel genug bereichert.
Union Communiste Libertaire, 5. Juli 2023