Nachdem vor knapp drei Jahren ein massiver sozialer Aufstand die herrschende neoliberale Ordnung in Chile erzittern ließ, steht das lateinamerikanische Land in diesen Tagen vor einer Volksabstimmung für eine neue Verfassung. Ihre Verfechter*innen meinen, dass die neue Verfassung endlich die Forderungen der Straße durchsetzen kann und preisen den verfassungsgebenden Prozess als ein Glanzstück moderner Demokratie und Teilhabe. Dass dem nicht so ist, zeigt eine Erklärung, welche die Anarchistische Föderation von Satiago (FAS) kürzlich herausgegeben hat. In ihrem Text benennen sie den verfassungsgebenden Prozess als das, was er wirklich ist: Die Erneuerung der kapitalistischen Ausbeutung der lohnabhängigen Klasse und der kolonialen Unterdrückung der indigenen Gemeinschaften Chiles. Wir haben die Erklärung der Genoss:innen übersetzt, weil sie die Lügen des Reformismus widerlegt und ein anschauliches Zeugnis gegen den Reformismus und Opportunismus ist. Es bleibt dabei: Der einzige Weg zur Befreiung der lohnabhängigen Klasse sind Direkte Aktion und Organisation! Für den Aufbau von Gegenmacht von unten!
Bei der Übersetzung haben wir uns eng am ursprünglichen Wortlaut orientiert. Dabei ist anzumerken, dass der Begriff «Volk» – als Übersetzung von «pueblo» (im Spanischen) oder «povo» (im Portugiesischen) – im lateinamerikanischen Anarchismus eine andere Bedeutung hat, als wir es im deutschsprachigen Raum gewohnt sind. Der organisierte lateinamerikanische Anarchismus begreift und verwendet «Volk» als Sammelbegriff für alle Unterdrückten der Gesellschaft, für alle, die ein objektives Interesse an der Überwindung der herrschenden Verhältnisse haben und nicht als nationalistischer und rassistischer Ausgrenzungsmechanismus. Mit dieser Anmerkung im Bewusstsein sollte der Text gelesen werden.
Das Original findet ihr hier auf der Facebook-Seite der FAS.
Positionspapier angesichts des Verfassungsreferendums am 4. September
Aus unserer politischen Organisation heraus verstehen wir, dass die grundlegenden Fragen des Klassenkampfes nicht in einem rechtlich-institutionellen Rahmen gelöst werden können. Daher wird keine Verfassung die Probleme lösen, die unsere Klasse betreffen und sie ist kein Fortschritt beim Aufbau unserer Emanzipation. Deshalb bezeichnen wir diesen Prozess als Erneuerung staatlicher Macht. Angesichts einer offensichtlichen Krise des “Pacto Social” (1), der uns in der Übergangszeit nach der Diktatur auferlegt wurde (2), soll dieser Prozess das System der Herrschaft mit neuem Sauerstoff versorgen. Deshalb bezeichnen wir ihr als “Proceso Restituyente” (3). Kurz gesagt, die Aufgabe der Konvents (4) bestand darin, den Rahmen unserer Unterdrückung und Ausbeutung zu aktualisieren, um unsere Unterwerfung unter die herrschende Klasse zu bestätigen.
Der aus der Convención hervorgegangene Text überließ einen großen Teil seines Inhalts den vom Kongress (5) zu verabschiedenden Gesetzen und Verordnungen. Das heißt, dass der Reformismus, der aus diesem Prozess gestärkt hervorgeht, einen Verfassungsvorschlag mit Entscheidungen und Grundsätzen vorlegt, dessen endgültiger Inhalt und Umsetzung jedoch vom Kongress abhängen wird. Das wird uns wieder einmal in den Teufelskreis von Klientelismus (6) und Erpressung führen, in dem die Parteien, die für die Zustimmung zur neuen Verfassung werben, das Volk auffordern werden, für sie zu stimmen, unter dem Versprechen, dass jetzt endlich die ersehnte Würde kommen wird. Und als ob das noch nicht genug wäre, hat sich die “Partei der Ordnung” (7) bereits auf Änderungen der jetzt vorgeschlagenen Verfassung geeinigt, falls sie die anstehenden Wahlen gewinnen. Daher sollten die Entscheidungen und Grundsätze, die in den herrschenden Parteien am meisten Kontroversen ausgelöst haben, bereits als hinfällig angesehen werden, da ihre Durchsetzung bereits in Frage gestellt wurde.
Wir glauben, dass die Überwindung der Verfassung der Diktatur und ihres Erbes eine Verbesserung der Bedingungen für den Klassenkampf ermöglicht. Wir sind uns jedoch darüber im Klaren, dass es sich nur um ein Symbol voller Kleingedrucktem handelt, das an sich kein würdiges Leben für unsere Communities garantiert, da die Säulen des Pinochetismus (8) und des Konservatismus nicht nur in der Verfassung verankert sind, sondern dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem innewohnen, welches nicht mit einer Abstimmung zu Fall gebracht werden kann. Dieses System kann nur durch die Fähigkeit der Organisationen von unten überwunden werden, die neue Welt, die wir in unseren Herzen tragen, im Kampf aufzubauen. Verschiedene soziale und politische Organisationen haben jedoch die Fahnen der direkten Aktion, die während der Sozialen Revolte hochgehalten wurden, verlassen und wurden sogar Teil der Regierung von Gabriel Boric (9). Auf diese Weise haben Organisationen, die einst eine radikale Veränderung unseres Lebens angestrebt und den Kampf und den Protagonismus des Volkes (10) gestärkt haben, die politischen Thesen des Reformismus übernommen, die darauf abzielen, dem Neoliberalismus durch demokratische Öffnung und den Aufbau einer neuen Art von Staat zu begegnen. Dies hat dazu geführt, dass sie ihre gesamten organisatorischen und kämpferischen Bemühungen auf den Wahlprozess konzentrieren und die Arbeit zur Stärkung der Organisierung von unten aufgeben.
Am 4. September geht es für die Herrschenden also darum, das Blatt zu wenden und die soziale Revolte hinter sich zu lassen: Das ist die Wette der Partei der Ordnung, die uns in ein komplexes Szenario nach dem Referendum versetzt; die Entleerung der Straßen und das Ende der Volksproteste werden gefestigt, um die Anstrengungen auf die Umsetzung der Verfassung und die Übernahme der Institutionen zu konzentrieren. Für uns ist dies ein schwerer Fehler, da der Aufbau einer kampffähigen und politisch autonomen sozialen Kraft, unsere beiden wichtigsten Instrumente zur Eröffnung von Szenarien des offenen Klassenkampfes, verloren gehen würde. Ein solcher politischer Kontext, so riskant er auch sein mag, lässt uns zwar einen vermeintlichen taktischen Sieg, wie den Zusammenbruch der Verfassung der Diktatur, davontragen, aber es handelt sich eindeutig vor allem um eine strategische Niederlage, die die Demobilisierung und Schwächung der sozialen und politischen Organisationen bedeutet.
Schließlich hat sich angesichts des Wahlopportunismus und der Befriedung des sozialen Konflikts, die nur dem Progressivismus (11) zugute kam, eine Art “Post-Revolte-Depression” entwickelt, bei der nicht die Würde, sondern offenbar die Resignation zur Gewohnheit wurde (12). Aus den oben genannten Gründen wollen wir nicht eine Position wiederholen, die wir seit 2019 in Bezug auf den Erneuerungssprozess deutlich gemacht haben, sondern uns darauf konzentrieren, eine Überlegung und einen Appell an den sozialen und organisierten Anarchismus vorzulegen: Wir glauben, dass es nach der Erfahrung einer Verschärfung des Klassenkampfes seit der Revolte unerträglich ist, dass wir uns weiterhin im Kreis drehen. Es hat keinen Sinn, sich religiös an ideologische Prinzipien zu klammern, vor allem, wenn die Realität ungeheuer komplex und widersprüchlich ist. Deshalb müssen wir es wagen, wir müssen unbequem sein, wir müssen das Sektierertum zerstören, wir müssen die Versenkung verlassen und zur Konsolidierung eines echten revolutionären Projekts beitragen. Sonst werden wir weiterhin Positionen aufrecht erhalten, die wenig und nichts zur Emanzipation unserer Klasse beitragen.
Wir glauben, dass es notwendig ist, die Organisation und den Protest des Volkes zu reaktivieren, indem wir die Sirenengesänge der Institutionen zurückweisen und die kleinmütige Haltung derjenigen in Frage stellen, die es vorziehen, angesichts von Missständen und Ungerechtigkeiten zu schweigen, um “die Bewährten zu schützen”. Unser Weg ist der des Kampfes, nicht der der Versöhnung, wir sind dem Konflikt verpflichtet, aber ohne ein konkretes politisches Projekt wird es nicht mehr als eine leere Parole sein. Daher ist unser Vorschlag die Stärkung der sozialen Organisationen und der Selbstverwaltung der Nachbarschaften mit der Perspektive des Bruchs (13) für den Aufbau der selbstverwalteten revolutionären Macht, die nichts anderes ist als die Fähigkeiten und Kräfte, die notwendig sind, um zum Aufbau organisierter Nachbarschaften und territorialer Selbstbestimmung voranzuschreiten, um auf diese Weise die Bourgeoisie und ihre Welt auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.
KEINE VERFASSUNG WIRD DIE HERRSCHAFT BEENDEN!
DEN KAMPF UND DIE ORGANISATION STÄRKEN!
FREIHEIT FÜR ALLE POLITISCHEN GEFANGENEN!
1: Mit diesem Begriff wird in Chile der informelle sogenannte “Gesellschaftsvertrag” beschrieben, der die konstruktive Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Teile regeln soll.
2: Die noch gültige alte Verfassung ist ein Produkt des Übergangsprozesses der 1990er Jahre, in dem die herrschende Klasse Chile von der Ära der rechten Pinochet-Militärdiktatur in die bürgerliche Demokratie überführte. “Ihre” Verfassung wurde den Menschen in dieser Phase einfach auferlegt ohne jede Mitbestimmungsrechte.
3: Dieser Begriff spielt auf den “proceso constituyente” an, mit dem in Chile der verfassungsgebende Prozess bezeichnet wird, an dessen Ende nun das Referendum stehen soll.
4: Gemeint ist die verfassungsgebende Versammlung, die den Entwurf der neuen Verfassung ausgearbeitet hat. Die Vertreter*innen wurden nach einer ersten Volksabstimmung im Mai 2021 gewählt.
5: Gemeint ist das chilenische Parlament.
6: Klientelismus soll hier die Realität innerhalb der politischen Klasse beschreiben, in der sich die angeblichen Volksvertreter*innen untereinander absprechen und sich in Wahrheit mehr für sich selbst einsetzen als für die, die sie gewählt haben.
7: Dieser Begriff soll ausdrücken, dass alle Parteien, die in den letzten 30 Jahren die existierende Ordnung des Neoliberalismus in Chile aufrecht erhalten und vertieft haben, in Wahrheit eine Partei sind. Die Partei der (herrschenden) Ordnung.
8: Gemeint sind Ideologie und Herrschaftssystem der Pinochet-Ära.
9: Boric ist seit März 2022 der neue, linksgerichtete Präsident Chiles. In Interviews redete er immer wieder über seine politische Vergangenheit in der linken Studierendenbewegung.
10: Gemeint ist hier ein Zustand, in dem die große Masse der Menschen von unten selbst den Kampf anführt, also Protagonistin ihrer eigenen Befreiung ist. Es handelt sich um ein zentrales Theorieelement im Especifismo.
11: Als prograssivistisch bezeichnen lateinamerikanischen Anarchist*innen den Teil der politischen Klasse, der sich nach außen als Kraft des sozialen Fortschritts gibt, aber nur weiter die Unterdrückung aufrecht erhält. In Deutschland würde man wohl von Linksliberalen reden. Borics Wahlsieg ist Ausdruck dieser Stärkung des Progressivismus.
12: Dass die “Würde Gewohnheit werden soll” war einer der zentralen Slogans der Revolte.
13: Der Bruch (“ruptura”) ist ein weiteres zentrales Theorieelement des Especifismo. Dieser geht davon aus, dass es entscheidend ist, dass die Anarchist*innen in sozialen Alltagskämpfen mitwirken, diese aber auf den revolutionären Bruch mit der herrschenden Ordnung ausrichten, in dem sie nach dieser Idee agitieren und Strukturen aufbauen.
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