Als Teil unserer Kampagne zur Erinnerung an 100 Jahre Märzrevolution im Ruhrgebiet führten wir vor ein paar Tagen ein kleines Gedenken auf dem Nordfriedhof in Dortmund Eving durch. Ursprünglich sollte diese Aktion in einem größeren Rahmen stattfinden, aufgrund der Corona-Pandemie haben wir sie nun im kleinen Kreis durchgeführt. Auch wenn wir den größeren Teil der geplanten Aktivitäten zur Märzrevolution absagen mussten, ist es uns wichtig, weiter – unter Berücksichtigung entsprechender Sicherheitsvorkehrungen – auf der Straße aktiv zu sein. Corona darf uns nicht in Schockstarre versetzen und unsere geplanten Projekte gänzlich verhindern. Die Gedenkaktion mag ein Beispiel dafür sein, wie wir über die Verbreitungsmöglichkeit Internet weiter aktiv sein können und weiter Menschen mit unseren Inhalten erreichen.
Im Folgenden die auf dem Friedhof gehaltene Rede im Wortlaut:
Liebe Genoss*innen,
wir stehen hier an einem der zahlreichen Gedenkorte im Ruhrgebiet, welche der Gefallenen der Märzereignisse gedenken. Allerdings ist dies einer der ganz wenigen Orte, die nicht an die faschistischen Freikorps oder Polizeieinheiten erinnern oder erst nachträglich angebracht wurden, sondern aus der Zeit selbst stammen und von und für revolutionären Arbeiter*innen errichtet wurden. Dieser Gedenkstein konnte den Nationalsozialismus nur überleben, weil er zugewuchert und vergessen dastand, um dann später zufällig wiederentdeckt zu werden.
Doch dieser Stein hier hat es in mehrfacher Hinsicht in sich. Denn hier liegt kein einziges Mitglied der Kommunistischen Partei begraben! Ihr werdet euch jetzt vielleicht wundern, immerhin steht ja KPD drauf, und die DKP schaut ja auch jedes Jahr hier vorbei? Und war die Märzrevolution nicht ohnehin ganz und gar eine Sache der Spartakisten, der Bolschewisten und der kommunistischen Partei?
Weit gefehlt, die KPD hatte zum damaligen Zeitpunkt der Märzrevolution 30-50 Mitglieder in Dortmund und errang nach der Niederschlagung der befreiten Gebiete bei der Wahl gerade einmal ein Prozent der Stimmen in Dortmund.
Für uns ist es wichtig, allen beteiligten Revolutionär*innen der damaligen Zeit, erstmal unabhängig ihrer Organisationszugehörigkeit, zu gedenken. Aber lasst uns doch bitte ehrlich zueinander sein und historisch korrekt. Während die KPD zum damaligen Zeitpunkt eine unbedeutende Kleinstpartei mit wenig Einfluss auf die damaligen Ereignisse in Dortmund war, war die anarchistische Bewegung ein Massenphänomen. Alleine in der Freien Arbeiter Union Deutschlands, der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft, waren Mitte 1920 etwa 20.000 Menschen nur in Dortmund organisiert.
Für uns ist es einfach traurig und ja, es macht uns auch wütend, zu sehen, wie der wichtige Anteil, den die anarchistische Bewegung an dem großen sozialen Experiment im Ruhrgebiet 1920 hatte, von allen Seiten unterschlagen wird.
Um so wichtiger ist es, dass wir hier heute stehen. An diesem Grab revolutionärer Arbeiter und wir nennen ihre Namen, sie waren Anarchisten, Sozialdemokraten und sogar Liberale:
Schneider Wilhelm Kniese
Schlosser Friedrich Zürn
Walzmeister Casper Humbert
Arbeiter Heinrich Haase
Kohlenhändler Adolf Kuhr
Dreher Wilhelm Wiechmann
Friseur Bernhard Hutzler
Eisenarbeiter Alex Grebba
Lehrhauer Max Milke
Arbeiter Hermann Utting
Hermann Altenscheid
und Ihring, von dem wir den Vornamen nicht kennen.Beispielhaft zuwenden möchten wir uns an dieser Stelle dem anarchistischem Genossen Adolf Kuhr.
Adolf Kuhr war Bergmann und wurde am 19.3.1866 in Ruhrort geboren. Er war verheiratet und hatte mehrere Kinder, er wohnte mit seiner Familie in der Bornstraße 228 in der Dortmunder Nordstadt.
1911 wurde er aus der SPD ausgeschlossen wegen „anarchosozialistischer Tendenzen“ und „parteischädigendem Verhalten“ – welch Ehrentittel und Auszeichnung!
Er war Gründungsmitglied der USPD, die sich 1916 von der SPD abgespalten hatte, weil sie deren Unterstützung des 1. Weltkriegs nicht mehr mittragen wollte. Außerdem war er Schriftführer der freien Vereinigung der Bergarbeiter.
Als radikaler Arbeiter konnte er schon bald nicht mehr als Bergmann arbeiten und wurde so als Kohlenhändler von seinen Genoss*innen über Wasser gehalten. Nach seinem Tod wurde der Witwe von Kuhr Hinterbliebenenversorgung von der Stadt Dortmund verweigert, da er nicht als “harmloser Neugieriger”, sondern als “Kommunist” gefallen sei.
Adolf Kuhrs Geschichte ist eine von Tausenden von Arbeiter*innen. Sie verdienen nicht unsere blinde Idealisierung, aber sie verdienen es verdammt nochmal nicht, vergessen zu werden. Ihr Opfer für die Befreiung unserer Klasse ist es, was wir niemals vergessen dürfen.
Denn: Vor hundert Jahren war die lohnabhängige Klasse hier, vor unserer eigenen Haustür, einmal so stark, dass sie, isoliert und ohne Unterstützung anderer Regionen, 17 Tage ihre Unterdrücker vertreiben konnte. Mithilfe einiger begünstigender Faktoren hätte es damals wirklich zu einer sozialen Revolution kommen können. Das zeigt uns, dass es möglich ist, die Verhältnisse radikal zu verändern.
In diesem Wissen stellen wir uns in die Tradition unserer Vorkämpfer*innen. Nicht, um nur zurück zu schauen und unsere im Vergleich hervorstechende Schwäche zu betrauern. Nein, wir schauen zurück, um nach vorne zu schreiten! Wer hat todesmutig der Reaktion getrotzt, wer hat die Sache der Freiheit verraten? Welche Fehler haben die Revolutionär*innen von damals begangen, was hat gut funktioniert? Wie unterscheidet sich die damalige Situation von unserer heutigen? Wie haben es Anarchist*innen und freiheitliche Kommunist*innen geschafft, zehntausende Menschen zu organisieren?
Mit diesen Fragen schauen wir nach vorne. Wir würdigen die Opfer unserer gefallenen Genoss*innen und rufen ihnen zu:
“Wir werden euren Kampf weiterführen! Unsere Revolte ist so alt wie die Zeit und sie wird erst enden, wenn unser Traum von einer freien Menschheit erfüllt ist!”
Lasst uns nun einen Moment innehalten.
Commemoration of the March Revolution in Dortmund Eving
As part of our campaign to commemorate the 100th anniversary of the March Revolution in the Ruhr area, we held a small commemoration at the Northern Cemetery in Dortmund Eving a few days ago. Originally, this event was supposed to take place on a larger scale, but due to the COVID-19 pandemic, it was carried out by a small circle instead. Even though we had to cancel the greater part of the planned activities related to the March Revolution, it is important to us to continue to be active on the streets – taking into account the appropriate safety precautions. COVID-19 must not throw us into a state of shock and prevent the projects we plan from taking place altogether. This commemoration event should be an example of how we can continue to be active and reach people with our content via the internet.
These are the words of the speech given at the cemetery:
Dear Comrades,
We are standing here at one of the numerous memorials in the Ruhr area which commemorate the fallen of the March events. However, this is one of the very few memorials that does not commemorate the fascist Freikorps or police units or that was only installed later, but that originates from the time itself and was built by and for revolutionary workers. This memorial stone could only survive National Socialism because it was overgrown and forgotten, and was only rediscovered later by chance.
But this stone here is remarkable for several reasons. There is not a single member of the Communist Party buried here, mind you! You might be surprised now, after all, it says “KPD” (Communist Party of Germany) on it, and the DKP (German Communist Party, successor of the KPD since 1968) comes here for a commemoration every year. And wasn’t the March Revolution entirely a matter of the Spartacists, the Bolshevists and the Communist Party anyway?
Far from it. The KPD had 30-50 members in Dortmund at the time of the March Revolution, and in the election after the suppression of the liberated areas, it won just one percent of the votes in Dortmund.
It is important for us to remember all the revolutionaries of that time, regardless of their organisational affiliations. But please let us at the same time be honest with each other and historically correct. While the KPD was a small, insignificant party with little influence on the events in Dortmund at that time, the anarchist movement there was a mass phenomenon. In the Free Workers Union of Germany, the anarcho-syndicalist trade union, about 20,000 people were organised in Dortmund alone in mid-1920.
For us it is sad – and yes – it also makes us angry, to see how the important part the anarchist movement played in the great social experiment in the Ruhr area in 1920 has continued to be downplayed by all sides.
So it is all the more important that we are standing here today, at this grave of revolutionary workers. And as we mention their names, we do so knowing that they were anarchists, social democrats and even liberals:
Tailor Wilhelm Kniese
Locksmith Friedrich Zürn
Roller Casper Humbert
Worker Heinrich Haase
Coal merchant Adolf Kuhr
Turner Wilhelm Wiechmann
Hairdresser Bernhard Hutzler
Iron worker Alex Grebba
Miner’s apprentice Max Milke
Worker Hermann Utting
Hermann Altenscheid
and Ihring, of whom we do not know the first name.At this point we would like to turn to our anarchist comrade Adolf Kuhr as an example.
Adolf Kuhr was a miner and was born on March 19th,1866 in Ruhrort. He was married and had several children. He lived with his family at Bornstraße 228 in Dortmund’s Nordstadt.
In 1911 he was expelled from the SPD because of “anarcho-socialist tendencies” and “party-damaging behaviour” – what an honour and distinction!
He was one of the founding members of the USPD, which had split from the SPD in 1916 because they no longer wanted to accept the SPD’s support of World War I. He was also secretary of the free association of miners.
As a radical worker he soon could no longer work as a miner and was thus kept afloat as a coal merchant by his comrades. After his death, Kuhr’s widow was refused survivor’s benefits by the city of Dortmund, because he had not been killed as a “harmless curious person” but as a “communist”.
Adolf Kuhr’s story is that of thousands of workers. They don’t deserve our blind idealisation, but they damn well don’t deserve to be forgotten. Their sacrifice for the liberation of our class is something we must never forget.
Because of this: A hundred years ago, the wage-earning class here, on our own doorstep, was once so strong that, isolated and without the support of other regions, it was able to drive out its oppressors for 17 days. With the help of a few favourable factors, a social revolution could have really taken place at that time. This shows us that radical social change is possible.
In this knowledge, we place ourselves in the tradition of our pioneers. Not just to look back and mourn our weakness, which is so striking in comparison. No, we look back to move forward! Who bravely defied the reaction, who betrayed the cause of freedom? What mistakes did the revolutionaries of that time make, and what worked well? How does the situation then differ from our situation today? How did anarchists and libertarian communists manage to organise tens of thousands of people?
With these questions we look ahead. We pay tribute to the our fallen comrades and call to them:
“We will continue your struggle! Our revolt is as old as time, and it will end only when our dream of a free humanity is fulfilled!”
Now, let’s pause for a moment of silence.