In der aktuellen Ausgabe der Contraste – Zeitung für Selbstorganisation, mit dem Schwerpunkt “Anarchismus heute”, findet ihr auch einen Artikel von uns:
Plattformismus – ein Konzept für den deutschsprachigen Raum?
von Mark Winter (die plattform)
Fragen, die Anarchist*innen seit jeher beschäftigen, lauten: Wie kommen wir zu einer sozialen Revolution? Wie können wir den sozialen Wandel dahin organisieren? Und wie kann die anarchistische Bewegung an Stärke gewinnen um dies alles umsetzen zu können? Ein wichtiger Beitrag zu dieser Debatte stellt die “Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union”¹ von 1926 dar. Die Überlegungen speisten sich aus den Erfahrungen, welche die Autor*innen² im Zuge der Russischen Revolution 1917 und den Jahren danach gemacht hatten: Anarchist*innen hatten bei der Revolution 1917 eine wichtige Rolle gespielt. Anarchistische Positionen hatten in der ausgebeuteten Klasse großen Anklang gefunden. Dennoch gelang es den Bolschewiki in der Zeit nach der Russischen Revolution einen autoritären Staat aufzubauen – anarchistische Konzepte der Selbstorganisation wurden von den Bolschewiki abgeschafft, Anarchist*innen von ihnen verfolgt und umgebracht.
Der aus diesen negativen Erfahrungen ausgearbeitete Textentwurf der “Organisationsplattform” zeigte die damaligen Schwächen der anarchistischen Bewegung auf. Und sie schlug ein neues Organisationskonzept vor (das die anarchistische Strömung des Plattformismus begründete). Dieses Konzept stieß im Deutschland der 1920er Jahre auf Ablehnung in der anarchistischen Bewegung. Und in den letzten Jahrzehnten fand es hier wenig Beachtung. Dabei liefert es bis heute wichtige Beiträge, um anarchistische Bewegungen stärker und effektiver zu machen. Viele der damaligen Probleme der anarchistischen Bewegung sind auch heute noch aktuell: Ihre fehlende Stärke in sozialen Kämpfen; ihre inhaltliche Beliebigkeit; ihr fehlendes strategisches Handeln…
Welche Kernelemente zeichnet die „Organisationsplattform“ aus? Die Basis stellt der Aufbau einer spezifischen Organisation mit lokalen Mitgliedsgruppen. Die plattformistische Organisation ist föderalistisch aufgebaut, dass heißt die Entscheidungen werden von der Basis, den lokalen Mitgliedsgruppen getroffen. Die in ihr organisierten Anarchist*innen teilen die grundsätzliche anarchokommunistische Ausrichtung der Organisation. Sie teilen eine gemeinsame inhaltlich-ideologische Richtung. Sie sind sich über (mittel- und langfristige) Ziele der Organisation einig. Um diese Ziele zu erreichen, verfolgen sie kollektiv als (lokale) Gruppe eine einheitliche, mit allen anderen Gruppen der Organisation vereinbarte Strategie. Alle Mitglieder verpflichten sich zur kollektiven Verantwortung. Dies bedeutet: Sie übernehmen Verantwortung für das Gelingen aller Aufgaben der Organisation und jedes einzelnen Mitglieds. Und sie stehen hinter allen Tätigkeiten und Beschlüssen der Gesamtorganisation.
Wie wurde die „Organisationsplattform“ in anderen Regionen aufgenommen? Im Europa der 1920er und 1930er konnte sie keine praktische Relevanz gewinnen. Unabhängig davon entwickelte sich mit dem Especifismo ab den 1950er Jahren in Südamerika eine anarchistische Strömung, die zentrale Elemente der „Organisationsplattform“ ebenfalls zur Grundlage hatte. Als wichtige Neuerung im Especifismo gilt das Konzept der “Sozialen Einfügung”: Neben den Aktivitäten in der eigenen Organisation sollen sich Anarchist*innen auch in sozialen Bewegungen engagieren oder diese starten. Hier wird deutlich, dass viele plattformistische Organisationen sich von der Organisationsplattform von 1926 inspirieren ließen. Aber sie übernahmen deren Inhalt nicht eins zu eins, sondern passten das plattformistische Konzept an ihre regionalen Gegebenheiten an. Sie kritisierten einzelne Aspekte der „Organisationsplattform“ oder entwickelten andere Aspekte weiter. Die „Organisationsplattform“ stellte lediglich die grobe Richtung dar. Jede plattformistische Organisation musste sich über ihren spezifischen Ausgangspunkt klar werden und dann ihren eigenen Weg gehen.
Mittlerweile gibt es zahlreiche plattformistische und especifistische Organisationen weltweit – vor allem in Südamerika und Europa, aber auch in Nordamerika, Australien und Südafrika. All diese Organisationen zeigen, dass die Ideen der „Organisationsplattform“ von 1926 wichtige Impulse für die anarchistische Bewegung lieferte. Eine lebendige Praxis plattformistischer und especifistischer Gruppen ist Ausdruck dafür: Durch die Verbreitung von Analysen und Medienbeiträgen; durch engagierte Beteiligung bei Streiks und Sozialprotesten, in Frauenbewegungen, im Aufbau von solidarischen und widerständigen Stadtteilstrukturen, in Umwelt- und Landlosenbewegungen, bei Bildungsprotesten; oder durch den Aufbau einer inspirierenden Widerstandskultur gegen Ausbeutung, Herrschaft und Unterdrückung.
Zu Jahresbeginn 2019 ging die Initiative “die plattform” an die Öffentlichkeit. Ziel unserer Initiative ist der Aufbau einer anarchokommunistischen, plattformistisch-inspirierten Föderation für den deutschsprachigen Raum. Wir möchten die Mittel der direkten Aktion und gegenseitigen Hilfe innerhalb unserer Gesellschaft verbreiten. “die plattform” soll als organisatorische Grundlage ein klar ausgearbeitetes Grundsatzkonzept haben, welches auf der Einheit von Theorie und Praxis aufbaut – mit gemeinsamen Zielen und gemeinsamer Strategie. Durch die gemeinsam getroffene Vereinbarung des kollektiven Handelns mit gemeinsamer Verantwortung wollen wir eine zuverlässige und vertrauensvolle Zusammenarbeit sicherstellen. “die plattform” soll förderalistisch von unten nach oben aufgebaut sein – ohne ein Zentralorgan, sondern mit gleichberechtigten Lokalgruppen, welche die Geschicke der plattform im Konsens bestimmen können. Wenn du Teil des Aufbaus einer solchen Organisation sein möchtest, schau auf unsere Webseite und melde dich bei uns: dieplattform.org
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¹ Gruppe russischer Anarchisten im Ausland – Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union (Entwurf). 1926
² Peter Arschinoff, Nestor Machno, Ida Mett, Linsky, Walevsky u.a.)
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